Rennsteiglauf 2009
- So ein T-Shirt will ich auch haben -
16. Mai 2009, 6:00 Uhr, Marktplatz Eisenach! Es ist wieder einmal soweit. Der Startschuss ist gefallen und unter Beifall und Rennsteigmelodien setzt sich das Läuferfeld in Bewegung. Emotionen und Spannung treffen sich, denn der Augenblick bewegt das Gemüt, das Wissen um die harte Arbeit der kommenden Stunden lässt die Luft regelrecht knistern.
Es ist wie jedes Jahr beim Start des Rennsteig-Supermarathons über fast 73 km.
Und doch war es in diesem Jahr anders und einmal mehr hat einer meiner Rennsteigläufe seine ganz eigene Geschichte, die sich von allen anderen Jahren deutlich abhebt.
Diese Geschichte hat schon lange vor dem Lauf begonnen.
Irgendwann beim Stammtisch hatte mein Bergfreund Dirk Wiesner auf mich gezeigt und gesagt: „So ein T-Shirt will ich auch haben!" Ich hatte das Finisher-Shirt eines meiner vorherigen Rennsteigläufe an. „Na ja, Wiese, das kann man aber nicht einfach so kaufen, das kriegt man nur, wenn man beim Supermarathon das Ziel erreicht!"
„Dann laufe ich eben mit!" So ähnlich jedenfalls war seine Antwort. Eine Bierlaune? Nee, das hatte nicht wie einfach mal dahergesagt geklungen. „Gut Wiese, wenn du ordentlich trainierst und in der Lage bist, 73 km zu rennen, dann laufen wir gemeinsam, dann bringe ich dich durch!"
16. Mai 2009, gegen 9:20 Uhr. Der Atem geht an dieser Stelle etwas schwerer, es sind nur ca. acht Grad, trotzdem läuft der Schweiß. Das Schild „25 km" ist erreicht, der kraftzehrende Anstieg auf den Großen Inselsberg ist geschafft. Neben mir Wiese. Keine Bierlaune — er war dabei!
Mein Gott, sieht der hier noch fit aus! Jetzt ist auch Kerstin Roßberg, die sich nach vielen Rennsteigläufen auch erstmals über den langen Kanten wagt, wieder ran. Sie war im Anstieg etwas langsamer gewesen. Wir hatten vorher beschlossen, das Rennen zu dritt gemeinsam zu laufen. Im Durchschnitt maximal acht Minuten für den Kilometer zu benötigen und im Ziel unter zehn Stunden zu bleiben, auf jeden Fall aber - wie auch immer - durchkommen, waren die erklärten Ziele.
Ich erinnere mich an Juni 2008. Wiese hatte tatsächlich zu trainieren begonnen. Jetzt wollte er erstmal um den Spremberger Stausee laufen. Immerhin fast 21 km, Halbmarathon. Als wir losgelaufen waren, war er kreidebleich. Seine Schritte waren vorsichtig. Oje, würde er das unbeschadet schaffen? Nach nur wenigen Kilometern war die Anspannung vorbei, nach als zwei Stunden war die Strecke geschafft. Jubel und Freude, er hatte sich vorher niemals träumen lassen, jemals so weit an einem Stück zu joggen!
10:40 Uhr, etwa km 35. Kerstin fällt etwas zurück. Wir laufen nicht einfach weg, sondern versuchen, sie zu motivieren. Sie ist hoch motiviert, aber kommt mit dem Laufen in der Gruppe nicht zurecht. Ich kenne das. Schon oft wollte ich für mich alleine „sterben", mein Ding machen. Der Kopf muss einfach frei sein dürfen, wenn man bei einer solchen Extrembelastung unterwegs ist — denn solche Rennen werden auch im Kopf entschieden!
Das muss sich Wiese auch gedacht haben, als er im Oktober 2008 nochmals die Runde um den Stausee gelaufen war, allerdings mit Start und Ziel in Cottbus. Marathon! Danach hat er eine Weile auf der Parkbank gelegen, ehe er sich aufrappeln und nach Hause gehen konnte. Aber geschafft.
11:55 Uhr, hier ist der Marathon schon längst gelaufen, denn wir erreichen Kilometer 45 und liegen voll im Plan, 13:06 Uhr erreichen wir den Grenzadler bei Oberhof, km 55, und waren auf diesem Teilstück deutlich zu schnell. Verdammt, das sollte nicht sein, wir müssen unsere Kräfte sparen. Denn jetzt kommt es wieder dick, der Große Beerberg. Nach mehr als 60 km geht es noch mal so richtig zur Sache.
Unsere Dialoge werden rarer, wer jetzt nicht zugibt, dass er merkt, „etwas getan" zu haben, der lügt.
Tatsächlich zahlen wir schon auf dem Weg zum Beerberg die durch das schnellere Laufen gewonnen Minuten zurück.
Aber wir erreichen zügig den höchsten Punkt des Laufes, haben genug Energie für Scherze und Blödelfotos und läuten das Finale ein: die letzten 10 km!
Es ist unser zweites gemeinsames Lauffinale, erst drei Wochen zuvor waren wir beim Zittauer Gebirgslauf, der Generalprobe sozusagen, gemeinsam auf den letzten Kilometern unterwegs. Auch hier war Wiese wie ein Uhrwerk durchgelaufen und war am Ende kaum noch zu bremsen.
Heute mussten wir bremsen. Denn mehr als 65 km zeigten deutliche Spuren im Kräftehaushalt und in der Konzentration. Vor uns stürzt ein Läufer jämmerlich, er rollt regelrecht den Weg entlang. Er hatte die Beine nicht mehr hoch genug genommen. Zum Glück kann er weiter. Auch wir müssen uns konzentrieren, Stolperer nehmen zu.
Mir selbst wurde etwas schlecht, ich wollte Wiese ab der Schmücke den Rest allein ziehen lassen — er war jetzt deutlich besser drauf als ich! „Quatsch!", meinte er, „Haben wir es bis hierher gemeinsam geschafft, machen wir auch den Rest gemeinsam!" Und dann hören wir das Ziel - am Skihang über Schmiedefeld!!!
16, Mai 2009, 15:32 Uhr, Schmiedefeld.
Nach 9 Stunden und 32 Minuten - Beifall, Rasseln, Anfeuerungsrufe, unsere Namen werden vom Zielsprecher angesagt — wir werden vorwärts gepeitscht. Christiane, Volker, Torsten stehen jubelnd am Rande, wir legen die Arme umeinander, reißen die Hände hoch — und rennen und rennen und überlaufen gemeinsam die Ziellinie ... es gibt keine Worte, die einen solchen Augenblick treffend beschreiben würden, er ist nur zu erleben!
Kerstin kommt nur wenige Minuten später, jetzt stehen wir mit jubelnd am Rand!
Wiese trägt stolz sein Finisher-Shirt. Kerstin strahlt. Ich bin happy!
Habe ich mein Versprechen gehalten, und Wiese durchgebracht? Nein, man kann niemanden auf dieser Distanz durchbringen, man kann lediglich mit seiner langjährigen Erfahrung jemanden begleiten und mit Rat und Tat zur Seite stehen. Durchbringen muss sich jeder auf dieser Strecke selbst, und das beginnt schon im Vorfeld durch hartes Training. Und so ist Wiese durch diesen Lauf ein Musterbeispiel dafür geworden, wie man durch einen starken Willen und diszipliniertes Training innerhalb nur kurzer Zeit von Null zu einem Supermarathonläufer werden kann.
Nicht zu vergessen
sind die anderen aus unserem Team. Volker und Torsten waren nach grandiosen ca. 7:30 Stunden im Ziel, auch alle anderen haben gesund und glücklich das Ziel erreicht.
Christiane war mit ihrer Schwester Heike auf der Marathonstrecke unterwegs und konnte mit 4:48 Std. ihre Laufzeit des Vorjahres um 25 min verbessern. Dieses freudige Grinsen wieder ;)))
Gemeinsam haben wir am Abend im Festzelt das Lied des Rennsteiglaufes geträllert und mit voller Überzeugung vor allem auch die Zeile gesungen:
„ ...hei hei hei ho, im nächsten Jahr, sind wir alle wieder da ...!